Die Schweiz sollte ihre Neutralität verteidigen

Die Schweiz sollte ihre Neutralität mit Händen und Füssen verteidigen!

7. September 2023, WELTWOCHE, Roger Köppel

Der frühere Nato-General Harald Kujat warnt die Schweiz vor einer Annäherung an die Nato. Darüber hinaus spricht er über den Krieg in der Ukraine und die militärischen Irrtümer im Westen.

Harald Kujat, geboren 1942 in Westpreussen, ist vielleicht der erfahrenste deutsche Militär seiner Generation. Obwohl er seinen Vater im zweiten Weltkrieg verloren hatte, schloss er sich der Bundeswehr an, wo er eine beeindruckende Karriere hinlegte. Von 2000 bis 2002 diente Kujat als 13.Generalinspekteur der Bundeswehr unp war damit der ranghöchste Offizier seines Landes. Anschliessend wechselte er nach Brüssel ins Hauptquartier der Nato, wo er bis 2005 als Vorsitzender des Militärausschusses wirkte. Seit der Eskalation des Ukraine-Konflikts im Februar 2022 profiliert sich Kujat als unbestechlicher Beobachter der Ereignisse und schreckt auch vor Kritik an der westlichen Seite nicht zurück. Zuletzt trat er mit einem vielbeachteten Friedensplan an die Öffentlichkeit. Wir erreichen den General a.D. per Videoanruf, um mit ihm über den Krieg in der Ukraine zu sprechen.

Weltwoche: Herr General Kujat, die grossangekündigte Sommeroffensive der Ukraine scheint nicht vom Fleck zu kommen. Trotzdem veröffentlichen die westlichen Medien fast täglich ukrainische Erfolgsmeldungen von der Front. Wie beurteilen Sie die Lage? Harald Kujat: Dieser Krieg ist nicht nur eine militärische Auseinandersetzung. Es ist auch ein Informationskrieg. Das ist ein entscheidender Faktor für die militärische Kriegführung. Im Westen vernehmen wir fast nur Informationen von der ukrainischen Seite, was auf die Ukraine zurückwirkt. Wenn die Ukrainer zum Beispiel sagen, sie hätten einen grossen Erfolg erzielt, dann heisst es in den westlichen Medien, die Ukraine könne diesen Krieg gewinnen. Die ukrainische Führung empfindet das als Bestätigung ihres Tuns. Damit leisten wir einen Beitrag zur Verlängerung des Krieges.

Weltwoche: Sie sagen also, dieser Krieg sei für die Ukraine nicht zu gewinnen? Kujat: Er ist von niemandem zu gewinnen, weder von Russland noch von den USA und schon gar nicht von der Ukraine. Russland wolltedie Nato-Erweiterung verhindern. Nun muss es zusehen, wie Finnland und Schweden zu Nato-Mitgliedern werden. Die USA wollten Russland schwächen. Aber Russland ist voll handlungsfähig. Seine Wirtschaft entwickelt sich sogar besser als die deutsche. Die Ukraine will in die Nato und die russischen Truppen von ihrem Territorium vertreiben. Auch das wird nicht funktionieren.

Weltwoche: Warum nicht? Kujat: Die russischen Streitkräfte wollen die ukrainischen Streitkräfte dezimieren, in Clausewitz‘ Sinne, indem sie die Gegner wehrlos machen. Und genau das tritt jetzt ein. Die Ukraine hat in dieser Offensive enorme Verluste, personelle Verluste, und der Westen glaubt immer noch, er könne personelle Verluste durch Waffenlieferungen ausgleichen. Das ist ein grundlegender Irrtum. Über Sieg und Niederlage entscheiden nicht die Waffen, sondern die Soldaten, die diese Waffen bedienen.

Weltwoche: Gibt es keinen Waffentyp, der die Ukrainer befähigen könnte, die Russen zu vertreiben? Im Moment ist viel von den F-16-Kampfjets die Rede. Kujat: Alle Waffen, die bisher geliefert wurden, galten als eine Art Game-Changer: die Panzer, die Haubitzen. Jetzt sollen es die F-16 sein. Natürlich würden sie die Kampfkraft der Ukrainer stärken, zumal die Russen über die Lufthoheit verfügen und diesen Vorteil auch ausnutzen. Sie setzen Kampfhubschrauber ein, die eine wirksame Waffe gegen Panzer und mechanisierte Infanterie sind. Die F-16 wären also eine Verstärkung der ukrainischen Luftverteidigung. Aber es bliebe auch mit ihnen äusserst schwierig, in den russischen Luftraum einzudringen. Die integrierte russische Luftverteidigung mit ihrem hochmodernen S-400-Abwehrsystem ist sehr effektiv. Es würde dem Westen nicht gefallen, wenn dauernd F-16 vom Himmel fielen.

Weltwoche: Deutschland diskutiert über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern. Was könnten diese ausrichten? Kujat: Taurus hat mehrere Navigationssysteme, eine starke Durchschlagskraft und ist schwer zu bekämpfen. Seit 1945 wären das die ersten deutschen Waffensysteme, die auf russischem Boden zum Einsatz kommen. Es wäre eine enorme Eskalation. Die Ukraine hat schon am 26. Dezember 2022 einen Anschlag auf den Stützpunkt Engels bei Saratow unternommen. Das ist ein strategischer Flughafen der russischen Streitkräfte, wichtig für den Einsatz nuklearerWaffen. Mit Taurus wären die Ukrainer in der Lage, solche Angriffe regelmässig durchzuführen. Das würde eine massive Reaktion Russlands herbeiführen.

Weltwoche: Wie gefährlich wäre das? Kujat: Die Existenz des russischen Staates und Volkes darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Sonst rechtfertigt die russische Doktrin einen Einsatz von Nuklearwaffen. Und der wird sich nicht, wie viele Experten meinen, gegen ukrainische Streitkräfte, sondern gegen strategische Ziele in Europa richten.

Weltwoche: Sie sagen, niemand könne diesen Krieg gewinnen. Wie könnte es in den nächsten Monaten weitergehen? Kujat: Ich denke, Russland wird versuchen, einen Gegenangriff durchzuführen, sobald die ukrainischen Streitkräfte entsprechend geschwächt sind. Sie haben bereits damit begonnen, im Norden der Front und bei Lyman. Dort erzielen sie erhebliche Geländegewinne. Das Ziel ist vermutlich, jene vier Gebiete vollständig zu erobern, die Präsident Putin am 30. September 2022 zu russischem Staatsgebiet erklärt hat. Ich halte es für durchaus möglich, dass Putin dann sagt, man habe das Ziel der militärischen Spezialoperation erreicht.

Weltwoche: Was würde das für den Westen bedeuten? Kujat: Die westlichen Regierungschefs wären dann in der unangenehmen Situation, entscheiden zu müssen, wie es weitergehen solle in diesem Konflikt. Darf die Ukraine eine militärische Niederlage erleiden, nach all der Unterstützung aus dem Westen? Oder würde man sagen, nun müssten den Waffen auch Soldaten folgen? Diese Situation gilt es unter allen Umständen zu vermeiden, und zwar jetzt schon, nicht erst, wenn sie eingetreten ist. Dann wären wir in einer Sackgasse.

Weltwoche: Was ist Ihr Lösungsansatz? Kujat: Im Westen heisst es heute, die Ukraine müsse militärisch in die Lage versetzt werden, den Russen bei Verhandlungen ihre Forderungen diktieren zu können. Das ist die offizielle Sprachregelung in diesem Informationskrieg. Die beiden Professoren Peter Brandt und Hajo Funke, der frühere Berater von Kanzler Kohl, Horst Teltschik, und ich haben einen Vorschlag ausgearbeitet. Er beinhaltet kurz gesagt drei Phasen: Waffenstillstand, Verhandlungen, demilitarisierte Zone. Gerade diese dritte Phase ist wichtig, weil ich der Überzeugung bin, dass es eine stabile Friedensordnung in Europa nur geben kann, wenn Rus.sland und die Ukraine einen Platz in dieser Sicherheitsarchitektur haben.

Weltwoche: Die ersten beiden Phasen – Waffenstillstand und Verhandlungen – bedingen, dass man mit der russischen Seite redet. Im Westen heisst es nun aber, Purin sei kein akzeptabler Gesprächspartner, sondern ein Killer und Kriegsverbrecher. Kujat: Wenn dieser Krieg weitergeführt wird, weil man nicht mit Russland verhandeln will, nimmt man weitere Hunderttausende Tote und die Zerstörung des Landes in Kauf. Wofür? Für ein Prinzip. Was ist denn moralisch höherwertig: einen Aggressor zu bestrafen oder das Leid der ukrainischen Bevölkerung zu beenden? Hinzu kommt: Es geht ja vor allem um den Donbass. Dort lebten vor dem Krieg überwiegend 4 russischsprachige Ukrainer, darunter solche, die sich als Russen bezeichneten. Dieses Gebiet will die Ukraine zurückerobern. Nicht weil die Bevölkerung, die dort lebt, es so will, sondern weil ein Prinzip es gebietet.

Weltwoche: Was sagen Sie als erfahrener General und Nato-Experte zur Schweiz? Sollte sie sich in dieser ungemütlich sich zuspitzenden Lage der Nato annähern oder ihr gar beitreten? Kujat: Die Schweiz hat ihre Sicherheit durch Neutralität erlangt. Sie sollte die Neutralität mit Händen und Füssen verteidigen. Wenn sie sich der Nato anschlösse, würde es nach dem alten Motto heissen: «Mitgefangen, mitgehangen». Dann ist die Schweiz in dieser Konfrontation dabei. Und das ist eine Situation, die sehr ungemütlich werden kann. Ich sage das auch als ehemaliger Vorsitzender des Nato-Militärausschusses.

Weltwoche: Worauf hoffen Sie in dieser schwierigen Zeit? Was ist Ihre Vision für die Welt? Kujat: Ich bin dafür, dass wir die Blöcke auflösen und nicht verstärken. Dass wir zu einer multipolaren Welt kommen, in der jeder Staat einen Platz hat, der ihm Sicherheit und Freiheit gewährleistet, ohne in zu starke Abhängigkeit von einem Drittstaat zu gelangen. Beispiel Schweiz: Sie hat ihre eigenen Ziele, ihre eigenen Interessen, und die muss sie bewahren. Sie darf sich nicht zur Vollstreckerin der Interessen anderer Nationen machen.

Das ausführliche Video-Interview mit General Kujat finden Sie auf weltwoche.ch